Siegmar Gassert, 1994
Text aus dem Katalog zur Ausstellung "Karl Glatt" in der Galerie Margrit Gass 1994 in Basel.
"...Gassert kam 1942 in Berlin zur Welt; er studierte dort Kunstgeschichte und Germanistik. Bei einem Ferienaufenthalt in der Schweiz, 1964, lernte er seine Frau kennen und blieb – in Basel studierte er auch Philosophie, Psychologie und Soziologie. Bald schrieb er für die National-Zeitung, dann von 1982 bis 1998 für die Basler Zeitung. Für die Dreiland- Beilage der BaZ schlug er Kunst-Brücken zwischen dem Elsass, Südbaden und Basel. Eine Folge dieser näheren Beschäftigung war die Arbeit am Markgräfler Museum Müllheim, wo er als Leiter die Sammlung Kunst am Oberrhein aufbaute. Siegmar Gassert war stets auch Vermittler: Er unterrichtete Medientheorie in Karlsruhe und gestaltete Ausstellungen im Bereich Neue Medien, etwa zum Thema Holografie. 2003– 2007 war er Gastkurator von Gruppenausstellungen im Projektraum M 54 in Basel. 1989 brachte er als einer der Ersten Kultur in den Badischen Bahnhof – im Kunstbuffet. Dort, im heutigen Konzertsaal der Gare du Nord, wird nun am 18. März Abschied genommen. Seine Lust an der Debatte über Kunst und Leben wird vielen in Erinnerung bleiben."
Thomas Waldmann 2009
Aus dem Nachruf in der Basler Zeitung
Besuch bei Karl Glatt
Hoch oben im Kirchenflügel
der ehemaligen Kaserne Basel, heute ein Kulturcampus. Karl Glatt, immerhin
Jahrgang 1912, sitzt aufrecht in seinem Atelier der lichten Kirchenfenster
und der vielen Bilder, der fertigen und der in Arbeit.Er kann auf ein Oeuvre
von mehreren hundert Arbeiten zurückschauen, neun Dutzend Gemälde
und Zeichnungen aus den Jahren 1950 - 1985 hat er seinerzeit in Berlin ausgestellt,
und er schaut nach wie vor nach vorn. Immer noch ungebrochen dieser Hunger
nach Bildern, sich auszudrücken und den Interessierten zu zeigen, was
bewegt und bewegen kann. An sich wirkt Karl Glatt wie ein Asket von besonderer,
vornehm zurückhaltender Würde. Aber dann im Gespräch, angesichts
und vis-à-vis der grossen Bilder, kommt eine wie selbstverständliche
Lebendigkeit und Vitalität auf. So, wie die Bilder auf der Leinwand
aus dem Pinsel auferstehen, so ist auf einmal der Maler und Mensch Karl
Glatt unverrückbar im Raum. Ein Augenzeuge der Gegenwart, der sich
aus der mannigfachen Lebenserfahrung vorwärts orientiert. Ein Engagement,
wie es nur Künstlern zukommt.
Wir stellen ein Gemälde nach dem anderen auf den Boden vor der Wandder
vielen Malspuren verrschiedenster Malperioden. Es ist wie ein Schreiten
durch die Zeiten, und doch sind wir ganz in der Fülle des Augenblicks
gefangen. Inzwischen haben die Bilder das Szenario übernommen. Ihre
Dramaturgie bestimmt unsere Gedanken und Gespräch. Wir wissen ohne
besondere Verständigung, dass es die Bilder sind, die bleiben, und
dass der Maler in den Bildern lebt. Kein zweites neben dem alltäglichen,
oft auch überraschenden und übermannenden, sondern ein verdichtetes
Leben, ein Leben der Parabeln und Metaphern, ein Leben wo das Lebenauf die
Spur kommt uun eine jeweilige Volendung in den Werken erfährt, die
Karl Glatt als gelungen betrachtet.
Was malt er eigentlich? Diese Frage muss man sich stellen, um näher
an die Substanz zu kommen. Karl Glatt malt aus der Tradition heraus, man
mag an Max Beckmanns gewaltige Vergegenwärtigungen des Mythos denken,
aber er malt die Tradition in ihrer Gegenständlichkeit nach vorne weiter
in einer ästhetischen Metaphysik. Kunst dient der Erkenntnis, nicht
dem gefälligen Schein oder gar der gehobenen Unterhaltung. Gehen wir
auf die Bildfigurationen zu. Bilder, das ist die geheime Glatt'sche Maxime,
Bilder müssen Ereignisse sein. Jedes Bild oder jede Bilderserie muss
die einzig mögliche Lösung darstellen. Es gibt keine Allgemeinlösung,
sondern nur eine individuelle Lösung. Wer religiös ist, mag gar
an Erlösung denken und von Transzendenz reden. Doch Karl Glatt ist
alles andere als ein Kanzelprediger. In Wahrheit nämlich kommt es darauf
an, die an sich gespensterhafte, oft wie Wahnsinn erscheinende Welt in der
Realität der Bilder einzufangen, ja, sie zu überholen.
Genau in diesem Sinn ist das Gemalte, sind die Gemälde wirklicher als
das Leben, - obwohl materiell nur Keilrahmen, Leinwand und Farben. Vielleicht
kann man so diesen Bildern am adäquadesten begegnen. Dann geht man
mit Karl Glatt auf eine "Odyssee", die auchunsere wird. Dann ist
man dabei im Reigen der zwei Paare, die sich berühren, umfangen, umschlingen.
Liebesnot und Liebeslust, Erstaunen und Erschrecken, das frontal Physische
und die gewollte Idealität. In diesen Bildern stossen sie aufeinander,
sind die Dramatik des Lebens. Menschsein ist Körperschicksal wie Gedankensuche
und Ideenrealisierung. Karl Glatt malt all das und noch viel mehr mit wuchtigen
Pinselstrichen, mit Farben, die einen anspringen und mit der alles durchdringenden
und strukturierenden Vision, dass der Mythos in der Kunst die Kunst als
Mythos immer wieder neu beleben, vergegenwärtigen, also aktuell machen
kann.